Geschichten aus dem Gärtchen des Rhadiophilos


Οἶκος Ῥαδιοφίλου

Rhadiophilos ist ein griechischer Philosoph, der zwar in den hyperboreischen Gefilden aufwuchs, jedoch durch eifriges Studium ein glühender Verehrer der antiken Philosophie wurde. Nachdem er in jungen Jahren eine eigene philosophische Schule gegründet hatte, zog er sich ins Privatleben zurück, wurde Arbeiter in den Hafenanlagen von Peiraieus, pflegte jedoch weiterhin Umgang mit Denkern und Dichtern. Berühmt sind seine Symposia, bei denen geschlemmt und diskutiert wird. Gelegentlich bringt einer der Freunde seine Lyra oder Mpouzouki mit, um zum Tanze aufzuspielen. Die Schule, die sich stark an die Lehren von Epikouros anlehnt, wird heute von Antilaos fortgeführt, der wiederum Gedanken von Platon aufnimmt. Es ist ihm das Recht eingeräumt worden, im Kepos-Garten zu Athen zu lehren.

Das Haus
In seinem kleinen, "Ataraxeion" genannten Haus im Dorf Mounychia, unweit der großen Hafenstadt, bietet Rhadiophilos seinen Gästen im Winter eine warme Stube, im Sommer jedoch einen Garten, in dem ein großer Feigenbaum steht, der reichlich trägt. Außerdem leben dort eine Ziege und ein Schwarm Tauben. Vom häuslichen Glücke wusste bereits der alte Sokrates ein Lied zu singen, doch wer den Oikos alleine bewirtschaften will, der möge dies getrost versuchen - und beim Glücke des Knemon enden, den einst Menandros so vorzüglich auf die Bühne brachte. Den Hasenstall vergaß ich beinah zu erwähnen. Aber der hat mit dem Misanthropen nichts zu schaffen.

Das Dorf und die Umgebung
Vom Ataraxeion hat man zwar keinen Blick auf das Meer, sieht jedoch den Hügel, auf dem, hinter einigen schwarzen Zypressen halb verborgen, das wuchtige Asklepion steht, in dem täglich zahlreiche Pilger den Gott der Heilkunst um Hilfe anflehen. Nicht wenige verirren sich in den Gassen von Mounychia und pflegen dann die Einwohner nach dem Weg zum Heiligtum zu fragen. Ein Fußmarsch von einer halben Stunde bringt einen zu den weitschweifigen Anlagen der Akademeia, in der zahlreiche junge Mathetoi und Mathetai von den Kathegeten unterrichtet werden. Rhadiophilos findet sich dort nur noch selten ein. Viel lieber führt ihn sein Weg auf den Markt von Lamprakes, wo die Bauern von Attika ihr Gemüse feilbieten: Spargel, Rauken, Pastinaken, Rapunzel, Kardonen, Meerkohl oder Postelein. Nun lässt sich letztendlich ja sehen, dass Rhadiophilos eben den Gedanken des Epikouros zugeneigt ist und keine lakedämonischen Vorfahren hat.

Die fremden Philosophen
Vor kurzem war in der Stadt eine Gruppe von Philosophen aus einem fernen Land zu Besuch auf einem seltsamen Schiff mit einem flachen Kiel und einem Mattensegel, das man stückweise durch Holzruten von unten nach oben hissen konnte (daran war Rhadiophilos eigentlich besonders interessiert). Sie waren auf Einladung der Archonten gekommen, die sich wohl pekunäre Vorteile erhofft hatten, doch hatten die fremden Philosophen stattdessen nur durch ihre Themen und Thesen die gesamte Philosophenschaft der Stadt durcheinandergebracht. Es war, als ob der Fuchs in den Hühnerstall gefahren wäre, so stritten sich die Epikureer, die Platoniker, die Stoiker und die unabhängigen Denker. Die Fremden, die sich Neo-Komphoukiakoi nannten, brachten ihre Thesen über das Universum und seinen Einfluss auf die Ordnung der menschlichen Gesellschaft zum besten. Antilaos, und dann auch Rhadiophilos waren zunächst begeistert von der Idee, dass es eine allem inhärente Ordnung gebe, die den Lauf der Dinge bestimme und so immer automatisch zu etwas Besserem führe. Die Fremden waren der Auffassung, dass der Gelehrte für sich allein in seiner Studierstube sitzen und durch eifriges Studium alter Schriften das innerste Wesen jener natürlichen Ordnung finde, verinnerliche und so zur Ruhe fände. Hätte er erst selbst einmal innere Ausgeglichenheit gefunden, indem er mit der natürlichen Ordnung eine Art Einheit bilde, würde durch sein Wirken sein Haushalt mit Frau, Söhnen, Töchern und Gesinde in Ordnung gebracht, von diesem die ganze Stadt (vom Haushalt, nicht vom Gesinde - das schafft höchstens Gerüchte), und schließlich das ganze Land. Nach einigem Disput jedoch ergab sich, dass die Fremden auf der einen Seite glaubten, so eine weltweite Uniformität im Verhalten aller Menschen erzeugen zu können, auf der anderen Seite jedoch darauf bestanden, dass es eine Hierarchie innerhalb der Gesellschaft gebe. Antilaos kritisierte an den Thesen der Fremden, dass die angenommene natürliche Ordnung eine feste Richtung habe, in der sie alle Menschen dränge, während es sich doch im wirklichen Leben zeige, dass manche Dinge so seien, andere anders, und dass die gleichen Dinge heute so und morgen so seien. Überdies hinaus sei es nicht Aufgabe des Philosophen, dem König treue Untertanen zu schaffen, sondern mündige, selbstbewusste und wesenfeste Menschen. Die Fremden sahen den ganzen Staat an wie ein Naturphänomen, dass sich über Jahrtause in festen Bahnen bewege, während es doch Tatsache ist, dass Sonne und Mond zwar immer Gestirne sind, ein König jedoch ein Tyrann werden kann oder ein Idiot. Nicht umsonst hat Ephialtes und dann Perikles dereinst das Volk bestimmen lassen, wer es führt (auch wenn es später jemanden gab, der sagte, dass das Volk dumm wie ein Rindvieh sei). Recht seltsam ist auch, dass man bei den Fremden sonst so genau zwischen Männern und Weibern unterscheidet, wie zwischen Sonne und Mond oder wie wir zwischen dem Dionysostheater und der Kirche des Heiligen Spiridon. Wenn sie schon getrennt essen (wie es bei uns im Süden ja auch Brauch ist), dann sollten sie auch einen Tyrannen und eine Tyrannin haben.

Die fremden Diebe
Besonders ungehalten über die fremden Gäste, oder eigentlich deren Begleiter, war der Prytan für Wissenschaften, denn während die Philosophen mit ihren wirren Thesen die ganze Stadt in Atem hielten, hatten deren Knechte sich in den künstlichen Räumen der Akademeia zu schaffen gemacht, in denen sich die hervorragenden Schöpfungen der Techne fanden, wie sie von Ktesibios und Heron aus Alexandria oder Philon von Byzantion geschaffen worden von waren. Mit größter Akribie hatten die Fremden die Apparaturen abgezeichnet und auch nicht gezögert, zum Beispiel den Taxameter des Heron auseinanderzunehmen. Einige Jahre später hörte man tatsächlich davon, dass der König der Fremden einen solchen Streckenmesser nachgebaut habe. Auch habe er in seinem Grab einen immerfließenden Bach aus Quecksilber anfertigen lassen, dessen Antrieb der gleiche sei wie bei der Wasserhebeschnecke des Archimedes von Syrakus.

Von der seltsamen Wiedergeburt
Nun gab es in einem anderen Land einen Schriftsteller, der davon berichtete, die fremden Philosophen (deren Besuch wohl nicht nur bei uns großes Aufsehen erregte) hätten uns eine Art "Wiedergeburt" gebracht. Wir Griechen haben ja zugegebenermaßen in unseren Mythen schon recht seltsame Geburten, von denen die edelste die unserer erhabenen Schutzpatronin ist, die aus dem Hirne ihres Vaters entsprang, und die reizendste die der Schaumgeborenen, die auf kyprischen Eilande dem Meer entstieg. Die Fabel vom Vogel Phoenix, der in einer Wiedergeburt der Asche entstieg, zu der er verbrannt war, mag man gar nicht mal erwähnen, da sie wohl im Innersten Arabiens oder im Reiche Aigyptos ihren Ursprung hat. Jedenfalls verlangt eine Wieder-Geburt einen Zustand davor, dessen Sein nicht ganz klar ist, denn obwohl eine Wieder-Geburt einen Zustand verlangt, in dem man sich erneut im Mutterleibe befindet, bleibt ungeklärt, ob letzterer Zustand auch eine Wieder-Zeugung und überhaupt ein Sterben davor verlangt. Vom "Anstoßen" einer Wiedergeburt kann jedenfalls keine Rede sein - jede Frau wäre glücklich, durch ein bloßes Anstoßen der Wehen ledig zu sein. Überzeugt, dass jene Neo-Komphoukiakoi, die sonst nur in ihren Stuben sitzen und tausend Jahre alte Bücher studieren, dem Geiste der unsrigen damit völlig überlegen seien, gab jener Schriftsteller zum besten, dass die Fremdlinge uns gezeigt hätten, wie man den Schatten der Sonne im Tagesverlauf misst und wie man Bücher druckt, was für uns eine Wieder-Geburt sei. Doch ist nicht das Schattenmessen eine simple Kunst aus den ältesten Zeiten der Menschheit, die Buchdruckerkunst hingegen eine recht neue Erfindung, die von einem Manne im nördlichen Moguntiacum getätigt wurde? Was also die Rede von einer Wieder-Geburt? Man möge sich nur einmal die primitiven Mattensegelschiffe der Fremden anschauen, wie unbeholfen sie über die Wellen schaukeln, während unsere jungen Männer, mancherorten auch die Sklaven, mit tüchtiger Manneskraft die Ruderschiffe schnell wie Pfeile über die Wogen dahinschießen lassen!

Vom Narrenschiffe

Kürzlich lief ein Schiff im Hafen ein, das vollbesetzt mit Leuten war, von denen jeder ein Rechenbrettchen in der Hand hielt, auf dem er ständig herumrechnete. Während die Matrosen die Segel niederließen und das Schiff an den Pollern vertäuten, kam kein Laut unter den Rechenkünstlern auf, auch gerieten sie nicht im Geringsten in Unruhe, wie sie nun an Land ihre Geschäftige tätigen oder eine Herberge finden sollten. Allesamt rechneten sie weiter auf ihren Brettchen, ohne auch nur ein wenig zur Seite zu schauen. Auch tauschten sie kein Wort aus miteinander, froh, die lange Seereise hinter sich gebracht zu haben. Wortlos gingen sie auch auseinander und zerstreuten sich in der Stadt. Beobachtete man sie dabei, war es gar lustig anzusehen, wie immer wieder einer von ihnen gegen einen andren stieß, weil er die ganze Zeit mit seinem Rechenbrettchen zu tun hatte. Man musste nur hoffen, dass nicht einer von ihnen von einem der jungen Bauernburschen überfahren wurde, die immer so rücksichtslos mit ihren Viehwagen durch die Gassen donnern. Antilaos, ein Freund des Rhadophilos, hatte tatsächlich mit einem der Rechenkünstler zu tun und erfuhr, dass sie sich die Zahl ihrer Freunde und "Gefolgsleute" errechneten. Dies sei bei ihnen eine derart angesehene Sache, dass sie sich lieber Gefolgsleute errechneten als mit ihren Freunden zu sprechen, es sei denn, sie prahlten damit, wer die höchste Zahl an Gefolgsleuten habe. Tatsächlich bekamen sie auch vom Erfinder der Rechenbrettchen eine Belohnung dafür, denn den Gefolgsleuten wurden irgendwelche Produkte zum Verkauf angeboten, und irgendwer würde diese dann schon kaufen, je mehr Gefolgsleute, desto mehr Käufer also. Der Erfinder der Rechenbrettchen sei dadurch so reich geworden, dass er allein mehr Vermögen habe als die Silberminen von Laurion je hergeben werden. Ihren Gefolsleuten teilten die Rechenkünstler recht banale Dinge mit, wie zum Beispiel, was sie gegessen hatten, oder dass das Wetter gut war. Weil sie derart damit beschäftigt waren, dass sie eigentlich keine Geschäfte tätigten, war die Athener Kaufmannschaft nicht sonderlich von ihnen erbaut und war froh, als das Narrenschiff wieder ablegte und still davonfuhr.



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